Rosi Daicz

Rosi Daicz

Ich heiße Rosi (eigentlich Hanny Rosa) Daicz. Ich bin am 13. September 1926 geboren. Meine Eltern heißen Albert Daicz (* 20.12.1894) und Chana (Anna) Daicz (*17.10.1893). Sie kamen mit meinen beiden älteren Schwestern Gisela und Esther 1920 aus Polen nach Lübeck. Hier wurden dann meine beiden Brüder Max Isaak und Julius geboren, die 1931 wegen Schwierigkeiten in der Schule ins Heim Vorwerk kamen. Ich bin die Jüngste bei uns in der Familie.

Ich besuchte nach der Grundschulzeit in der Burgschule ab März 1938 die Geibel-Mädchen-Mittelschule. Ich bin immer gerne zur Schule gegangen, meine Klassenlehrerin Frau Leonhard war sehr nett und ich habe mich gut mit meinen Klassenkameradinnen verstanden. Deshalb konnte ich es überhaupt nicht verstehen, warum ich ab dem 9. November 1938 nicht mehr zur Schule gehen durfte. Meine Mutter versuchte es mir zu erklären, aber bis jetzt durfte ich doch auch als jüdisches Mädchen zur Schule gehen wie alle anderen Kinder auch.

Noch schlimmer war allerdings, dass mein Papa am 9. November von der Polizei plötzlich verhaftet wurde und in ein Konzentrationslager nach Sachsenhausen gebracht wurde. Er hatte doch gar nichts gemacht. Er durfte auch nicht mehr als Schneider arbeiten. Wovon sollten wir bloß leben? Zum Glück verdienten Gisela und Esther durch ihre Arbeit Geld, von dem sie uns etwas abgaben, damit wir etwas zu essen hatten.

Eines Abends erzählte mir Papa, nachdem er wieder zu Hause war, dass er verreisen würde. Er sehe keinen anderen Ausweg als ganz weit weg nach Shanghai zu gehen. Wenn er dort eine Wohnung und Arbeit gefunden hätte, würde er uns nachholen. Ich wusste nicht was ich sagen sollte und weinte nur noch.

Nachdem ich in Lübeck nicht mehr zur Schule gehen durfte, bin ich jeden Tag mit dem Zug nach Hamburg zur jüdischen Schule gefahren. Ich musste immer ganz früh aufstehen und kam erst abends wieder nach Hause. Zuerst bekamen wir noch von einer jüdischen Organisation Geld für die Zugfahrt. Als wir die Nachricht erhielten, dass der Zuschuss gestrichen werden sollte, hat meine Mutter den Schulleiter informiert, dass ich nicht mehr kommen könne

Dazu kam, dass Oma Malka ganz krank wurde und ins Krankenhaus musste. Nachdem sie entlassen wurde, lebte sie bei uns und wurde von meiner Mama gepflegt. Ich half ihr so gut ich konnte dabei. 1940 ist sie dann bei uns zu Hause gestorben.

Wir mussten dann plötzlich unsere Wohnung in Fünfhausen 5 verlassen, uns wurde von einem auf den anderen Tag gekündigt. Zum Glück konnten wir in der jüdischen Gemeinde in der St. Annen-Straße unterkommen.

1941 erhielten wir dann die traurige Nachricht, dass meine beiden Brüder Max Isaak und Julius in einem Heim in Brandenburg gestorben seien. Wir konnten uns das nicht erklären und waren tottraurig.

Anfang Dezember 1941 erhielten wir dann einen Brief, dass meine Mutter, Gisela und ich am 6. Dezember zum Bahnhof kommen müssten. Wir sollten in den Osten gebracht werden und sollten dort arbeiten. Mitbringen durften wir 50 kg Gepäck.

Wir waren völlig verzweifelt. Warum? Was hatten wir getan? Was sollten wir mitnehmen? Was erwartete uns dort? Was hatte man mit uns vor?

Rosi besuchte nach der Grundschulzeit in der Burgschule ab März 1938 die Geibel-Mädchen-Mittelschule. Eine ihrer damaligen Mitschülerinnen in der Klasse von Frau Leonhard erinnert sie als nett und immer fröhlich. Rosi habe wunderschöne blonde Locken gehabt, ein schmales spitzes Gesicht, und sie habe eine Brille getragen. Nach dem 9. November 1938 habe sie die Schule verlassen müssen, so dass sie nur sehr wenige Monate in einer Klasse gewesen seien. Nach dem Erlass vom 15. November 1938 war jüdischen Kindern und Jugendlichen der Besuch „deutscher Schulen “ nicht länger gestattet. Am 13.12.1938 teilte die Geibel-Mittelschule dem Schulamt mit, dass Rosi Daicz aus der Klasse 6b ausscheide.

Rosi ging nach dem Ausschluss aus der Mädchen-Mittelschule in Lübeck in Hamburg zur Schule und fuhr täglich hin und her. Die hohen Kosten für die Bahnfahrten wurden von den jüdischen Organisationen getragen, sollten aber ab August 1941 eingespart werden.

Rosi Daicz

  • Hanny Rosa (genannt Rosi) Daicz wurde am 13. September 1926 als jüngste Tochter von Chana (Anna) und Albrecht Daicz geboren
  • sie hatte noch vier weitere Geschwister
  • die Familie wohnte in Lübeck, in Fünfhausen 5
  • die Brüder Max Isaac und Julius waren wegen geistiger Hanicaps im Heim Vorwerk untergebracht
  • Rosi besuchte nach der Grundschulzeit in der Burgschule ab März 1938 die Geibel-Mädchen-Mittelschule
  • Rosi musste im November 1938 als jüdisches Mädchen die Schule verlassen
  • ihr Vater wurde nach der Reichspogromnacht ins KZ Sachsenhausen gebracht, er wurde als selbstständiger Schneider aus der Handwerksrolle gelöscht
  • Albert Daicz konnte Anfang 1939 nach Shanghai emigrieren
  • Rosis Brüder Max Isaac und Julius wurden aus dem Heim Vorwerk nach Hamburg-Langenhorn verlegt und wenige Tage später, am 23.9.1940 in der Tötungsanstalt Brandenburg in einer Gaskammer ermordet
  • am 6. Dezember 1941 wurde Rosi mit ihren Schwestern und ihrer Mutter nach Riga deportiert, wo sie wahrscheinlich Opfer der Erschießungen im Bikerniekiwald wurde

Fünfhausen 5 -
Familie Daicz

Die Familie Daicz hatte ihre Wohnung im Haus Fünfhausen 5.
Bebauung im Bereich Fünfhausen 5 heute

Die Bebauung dieser Straße sah bis 1942 völlig anders aus als heute. Zwar gibt es kein Foto des Hauses Nr. 5, aber zwei Bilder vom Fünfhausen können doch einen Eindruck geben.

Albert Daicz, geboren am 20.12.1894 in Breziny / Lodz, war Schneider von Beruf. Auch seine Frau Chana (Anna) Daicz, geborene Finkelberg stammte aus diesem Ort in Galizien, sie wurde am 17.10.1893 geboren.

Mit ihren älteren Töchtern Gisela (geboren am 20.2.1917) und Esther (geboren am 15.4.1919) kam das Ehepaar 1920 nach Lübeck. Hier kamen die beiden Söhne zur Welt: Max Isaak am 30.5. 1921 und Julius am 18.1.1923. Wegen geistiger Behinderungen wurden die beiden Jungen ab 1931 im Heim Vorwerk untergebracht.

Am 13. September 1926 wurde schließlich die jüngste Tochter Hanny Rosa geboren, auch Rosi genannt. Sie ist auf einem der Fotos aus der Jüdischen Religionsschule abgebildet.

Schülerinnen und Schüler der jüdischen Religionsschule in den 30er Jahren

Rosi besuchte nach der Grundschulzeit in der Burgschule ab März 1938 die Geibel-Mädchen-Mittelschule. Eine ihrer damaligen Mitschülerinnen in der Klasse von Frau Leonhard erinnert sie als nett und immer fröhlich. Rosi habe wunderschöne blonde Locken gehabt, ein schmales spitzes Gesicht,  und  sie habe eine Brille getragen. Nach dem 9. November 1938 habe sie die Schule verlassen müssen, so dass sie nur sehr wenige Monate in einer Klasse gewesen seien.  Nach dem Erlass vom 15. November 1938 war jüdischen Kindern und Jugendlichen der Besuch „deutscher Schulen “ nicht länger gestattet. Am 13.12.1938 teilte die Geibel-Mittelschule dem Schulamt mit, dass Rosi Daicz aus der Klasse 6b ausscheide.

Rosis Kummer über diese Ausgrenzung dürfte von größeren Sorgen verdrängt worden sein: Der Vater war nämlich am 9. November verhaftet und ins KZ Sachsenhausen gebracht worden. Während seiner Abwesenheit kam ein Schreiben, das der Familie vollends ihre Existenzgrundlage raubte: Die Lübecker Handwerkskammer hatte den Schneider Albert Daicz aus der Handwerksrolle gelöscht. Seit 1933 bereits waren die Einkünfte durch die Boykottmaßnahmen so stark zurückgegangen, dass sich die Familie nur durch die Einkünfte der beiden älteren Töchter ernähren konnte.

Albert Daicz konnte Anfang 1939 mit anderen Männern aus Lübeck nach Shanghai emigrieren und so unter schweren und traurigen Bedingungen überleben. Seine Familie wollte er nachholen, was aber trotz vielfacher Bemühungen nicht gelang.

In den Briefen von Bertha und Dora Lexandrowitz an ihre Verwandten in Shanghai ist einiges über Frau Daicz und ihre Kinder zu lesen. Im November 1939 schreibt Rosi einen Gruß unter den Brief:

„Meine Lieben! Da ich gerade hier bin, möchte ich einen Gruß zuschreiben. Mir geht es gut. dasselbe hoffe ich auch von Euch zu hören. Grüßen sie bitte Papa von mir, wenn Sie ihn sehen. Viele Grüsse Rosi.“ ( S. 69)

Aus den Briefen geht auch hervor, dass Frau Daicz‘ Mutter Malka Finkelberg lange im Krankenhaus liegen und schließlich in der Familie zu Hause über mehrere Monate bis zu ihrem Tod im Februar 1940 gepflegt werden musste.

Am 19. Februar 1941 schreibt Bertha Lexandrowitz nach Shanghai:

„Am Sonntag bin ich dann allein zum Friedhof nach Moisling gefahren. (Gisela Daicz wollte mich begleiten, aber konnte nicht, da sie gerade am Freitag vorher die Todesnachricht ihrer beiden Brüder bekommen hatten u. natürlich sehr kaputt waren.) Infolge der Schneeschmelze stand das Wasser ½ m hoch u. ich konnte trotz der Gummistiefel von Rosi Daicz mich gar nicht an den Gräbern aufhalten… Mein Herz war mir ganz zerbrochen. “ (S.121)

Die beiden Jungen waren am 16.9.1940 aus dem Heim Vorwerk zusammen mit 13 weiteren jüdischen Kindern und Jugendlichen nach Hamburg-Langenhorn verlegt worden. Nur wenige Tage später, am 23.9.1940 wurden sie von dort nach Brandenburg transportiert und noch am selben Tag ermordet. In der Tötungsanstalt Brandenburg wurden zwischen Februar und Dezember 1940 insgesamt 8.989 Menschen in einer Gaskammer ermordet.

Die Nachricht von ihrem Tod wurde der Familie offenbar erst verspätet mitgeteilt.

Zu diesem Zeitpunkt waren Frau Daicz und ihre Töchter bereits aus der Wohnung Fünfhausen 5 vertrieben und hatten Unterschlupf in der St.Annen-Straße 11 gefunden.

Rosi ging nach dem Ausschluss aus der Mädchen-Mittelschule in Lübeck in Hamburg zur Schule und fuhr täglich hin und her. Die hohen Kosten für die Bahnfahrten wurden von den jüdischen Organisationen getragen, sollten aber ab August 1941 eingespart werden. Deshalb schrieb Frau Daicz am 20.8.1941 einen Brief an den Schulleiter Direktor Spier:

Lübeck d. 20.9.41

Sehr geehrter Herr Direktor Jonas

Als meine Tochter Rosi am Donnerstag nachmittag hierher kam, um sich zu verabschieden und abends zurückzufahren, zeigte sich ein leichtes Unwohlsein bei ihr an. Da sie auch ein wenig Fieber hatte, zog ich vor, sie einige Tage hier zu behalten. Bis heute Sonntag hat sich Rosis Lage eher verschlimmert als verbessert. Sie muss nämlich einer Halsentzündung verbunden mit zeitweise auftretenden Schwindelanfällen halber das Bett hüten. Ich bitte Sie daher höflichst ihr Fernbleiben von der Schule zu entschuldigen.

Gleichzeitig möchte ich Ihnen folgendes mitteilen. Es wäre meinerseits gänzlich unmöglich mich ganz von meiner Tochter Rosi trennen zu müssen. Mein Mann weilt in Shanghai, zwei meiner Kinder habe ich erst kürzlich durch ein tragisches Schicksal verloren, zwei verlassen in einigen Wochen mein Haus um nach ausserhalb zu heiraten, so ist Rosi die letzte, die mir noch bleibt. Wenn sie auch bei meiner Schwester dort wohnt, so ist dieses eher eine Gnade als ein Trost für mich aus Gründen, die ich hier nicht angeben möchte. Wir sind nun zum Entschluss gekommen, dass Rosi umgehend die Schule verlässt. Ich hoffe nun, dass Sie verehrter Herr Direktor meinem Wunsche nichts in den Weg legen. Rosi soll hier bei mir im Haushalt angelernt werden, oder wenn dieses nicht möglich ist, irgend eine andere Beschäftigung aufnehmen. Oder sollte es nicht möglich sein Rosi täglich hin und her fahren zu lassen ? Ich hoffe in meiner Bitte Verständnis bei Ihnen zu finden und

Zeichne Hochachtungsvoll

Frau Daicz

Der Schulleiter Dr. Alberto Israel Jonas antwortet am 26.9.1941:

“Sehr geehrte Frau Daicz! Hiermit bestätige ich den Empfang Ihres Briefes vom 20.ds. Da Rosi ihrer Schulpflicht genügt hat, bestehen keine Bedenken, daß Sie sie aus der Schule herausnehmen. Es ist nur schade, daß Rosi auf diese Weise aus ihrer schulischen Entwicklung herausgerissen wird. Ich will versuchen, die Erlaubnis zu erwirken, daß Rosi hier wohnen kann und trotzdem in den Ferien nach Hause fahren darf. Sie erhalten von mir Bescheid, sobald ich etwas erfahren habe.”

(Staatsarchiv Hamburg, 362-6/10 Talmud Tora)

Am 17.10.1941 findet in Hamburg die Hochzeit von Esther Daicz mit Rudolf Bähr statt, wozu alle Familienmitglieder und Freunde eingeladen sind. Ihre Anträge auf das Verlassen Lübecks und eine Bahnfahrt nach Hamburg finden sich im Lübecker Archiv.

Nur wenige Tage nach der Heirat, am 8.11.1941 wurde Esther mit ihrem Mann von Hamburg nach Minsk deportiert und kehrte nie zurück.

Einen Monat später, am 6. Dezember 1941, folgte für Anna Daicz und ihre Töchter Gisela und Rosi die sog. Evakuierung nach dem Osten, die Deportation nach Riga, wo sie irgendwann ermordet wurden. Es ist nicht bekannt, ob sie bereits in den ersten Monaten im Lager Jungfernhof ums Leben kamen, ob sie zu den vielen Opfern der Erschießungen im Bikerniekiwald im Februar und März 1942 gehören oder ob sie noch längere Zeit im Getto Riga oder einem der Konzentrationslager eingesperrt und zu harter Arbeit gezwungen waren.

Albert Daicz schlug sich als Flickschneider im Getto von Shanghai durch. Im Verzeichnis der Flüchtlinge in Hongkew findet sich seine Adresse : 302/5 Zang Yang Lu. Im Jahre 1947 heiratete er ein zweites Mal. Sein Versuch, in Israel heimisch zu werden, schlug fehl. 1953 ging er nach New York und starb dort nach zehn Jahren verzweifelten Existenzkampfes am 13. März 1963.

Antrag von Gisela Daicz bei der Geheimen Staatspolizei in Lübeck auf die Reiseerlaubnis nach Hamburg
Stolpersteine-für die Familie Daicz Fünfhausen

Quelle:
Recherche und Text von Heidemarie Kugler-Weiemann veröffentlicht auf
https://www.stolpersteine-luebeck.de/main/adressen/fuenfhausen-5.html